„Die beste ‚Bezahlkarte‘ ist die Bankkarte fürs eigene Konto!“ - Für eine diskriminierungsarme Bezahlkarte im Landkreis Tübingen.

Mit der Forderung nach der Einführung einer Bezahlkarte im Asylbewerberleistungsgesetz hat ein­mal mehr eine ursprünglich vom äußerst rechten politischen Rand propagierte migrationsfeindliche Idee Eingang in den poli­tischen Mainstream der Bundesrepublik gefunden. Mit teils unhaltbaren oder erwiesen falschen Be­hauptungen und unrealistischen Versprechungen haben die politisch Verantwortlichen für dieses vorgebliche Abschreckungsinstrument votiert – und dies, obgleich eine „deutsche Bezahlkarte“ nie­manden auf dieser Welt von einer Flucht aus unerträglichen Situationen abhalten und keinerlei Ein­fluss auf das kriminelle Schlepperwesen haben wird.

Faktisch wird die Bezahlkarte aber bereits nach Deutschland geflohene Menschen zusätzlich diskri­minieren, sie in ihrer Lebensführung schikanieren, ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben er­schweren und die Arbeit der in der Flüchtlingshilfe und Integrationsarbeit tätigen Menschen behin­dern. Damit wird eine ohnehin vielfach repressive Politik gegen schutzsuchende Menschen in Deutschland ein weiteres Mal verschärft und eine gesellschaftliche Stimmungslage des Ressentiments, der Ungleichheit und der Ausgren­zung geflüchteter Menschen ein weiteres Mal befördert.

Am 12.04.2024 hat der Bundestag – auch auf massiven Druck der grün-schwarzen baden-württembergischen Landesregierung hin – den gesetzlichen Rahmen dafür geschaffen, dass finanzielle sozia­le Hilfen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auf Landes- und kommunaler Ebene künftig auch in Form einer solchen "Bezahlkarte" ausbezahlt werden können.

Aus dieser neuen bundesgesetzlichen Möglichkeit ergibt sich weder eine allgemeine Verpflichtung zur Einführung der Bezahlkarte noch zu einer bestimmten, geschweige denn: zu einer besonders repres­siven Form der Bezahlkarte. Es ist nun an den einzelnen Bundesländern, Landkreisen und Kommunen, verantwortlich zu entscheiden ob und in welcher Form sie eine Bezahlkarte für Geflüchtete in ihrem Zuständigkeitsbereich nutzen wollen.

Aufgrund der bisherigen Auslassungen der politisch Verantwortlichen im Land Baden-Württemberg und auch des Tübinger Landrats, der sich als führendes Mitglied der kommunalen Spitzenverbände von Anfang an für die Einführung einer Bezahlkarte eingesetzt hat, müssen wir leider damit rechnen, dass diese für geflohene Menschen auch im Kreis Tübingen eingeführt werden wird.

Da sich wohl nicht mehr grundsätzlich verhindern lässt, was eigentlich verhindert werden sollte, wollen wir nun wenigstens Einfluss auf die konkrete Gestaltung der Bezahlkarte hier vor Ort gel­tend machen. Als lokale Initiativen der Flüchtlingshilfe, der Solidaritäts- und Menschenrechtsarbeit nehmen wir so unsere zivilgesellschaftliche Verantwortung wahr angesichts eines migrations- und integrationspolitisch unsinnigen und diskriminierenden Instruments, das wir grundsätzlich ab­lehnen und verurteilen. Wir tun dies im Interesse der geflüchteten Menschen, mit denen wir es in unserer Arbeit und bei vielfältigen Begegnungen in unserem Alltag zu tun haben.

Wir haben die Hoffnung, dass die politisch Verantwortlichen bei einer konkreten Einführung der Bezahlkarte im Landkreis Tübingen wenigstens unsere grundlegenden Bedenken dazu hören und annehmen, und vor allem die Expertise derjenigen zivilgesellschaftlichen Initiativen berücksichti­gen, die seit Jahren auf lokaler Ebene Flüchtlingsarbeit betreiben und wesentlich dazu beitragen, die Aufnahme und das Ankommen der im Landkreis lebenden geflohenen Menschen zu be­werkstelligen.

In dieser Hoffnung fordern wir von den politisch Verantwortlichen, dass sie – wenn sie schon von der Einführung einer Bezahlkarte für geflohene Menschen nicht Abstand nehmen wollen - diese Be­zahlkarte so ausgestalten, dass sie die Lebensführung der Betroffenen nicht übermäßig belastet. Die absehbar negativen Auswirkungen, die durch die Einführung der Bezahlkarte für die Betroffenen entstehen werden, müssen so gering wie möglich gehalten werden.

Konkret fordern wir: Wenn eine Bezahlkarte für Geflüchtete im Landkreis Tübingen eingeführt wird, dann muss diese in der Praxis…

  • ...ohne Einschränkungen nutzbar sein:

    • Barabhebungen müssen ohne monatliche Obergrenze möglich sein, bis zur vol­len Höhe der monatlichen Leistungsbezüge (siehe Modellprojekte in Städten wie Konstanz, Hannover...). Dadurch wird u.a. weiterhin solidarisches Handeln zwi­schen geflüchteten Menschen untereinander, z.B. bei der Überbrückung finanzi­eller Engpässe oder Notla­gen von Familienangehörigen ermöglicht. Die aktuell auf Landesebene ventilierten Überlegungen, monatlich lediglich 50 Euro Ta­schengeld in bar für die Betroffenen zu er­möglichen, sind absolut indiskutabel!

    • Barabhebungen müssen ohne Gebühren möglich sein. Bargeld spielt im Leben von Menschen in prekären Lebensverhältnissen eine besonders große Rolle. Deshalb darf die Bargeldversorgung gerade bei ihnen nicht künstlich verteuert werden.

  • ...den bargeldlosen Zahlungsverkehr mit Dritten ermögli­chen:

    • Um z.B. das Deutschlandticket nutzen zu können müssen monatliche Abbuchungen möglich sein. Geflohene Menschen müssen zudem z.B. ihre Anwaltskosten durch Überweisungen begleichen können – und dies, ohne dass sie die anwaltliche Beratung und Vertretung gegenüber der Verwaltung offen legen müssen.

    • In ihrem bargeldlosen Zahlungsverkehr muss die Privatsphäre der Kartennutzer:innen und das Recht auf Vertraulichkeit unbedingt gewahrt werden. Überweisungen oder Lastschriften mit der Karte müssen daher grundsätzlich durch die Nutzer:innen selbst, ohne Umweg über die Behörd­e, vorgenommen werden können.

    • Einkaufen mit der Karte muss ohne räumliche Beschränkungen (z.B. auf be­stimmte Postleitzahlengebiete), sowie

    • ohne Begrenzung auf bestimmte Branchen (bzw. ohne Ausschluss bestimmter Bran­chen) möglich sein.

  • ...auf einen möglichst kleinen Personenkreis begrenzt sein:

    • Die Bezahlkarte soll nur für diejenigen geflüchteten Menschen Verwendung fin­den, die ganz neu in Deutschland angekommen sind und deshalb noch kein ei­genes Bankkonto eröffnen konnten. Nur für diese relativ kleine Zielgruppe im Kreis stellt die Karte evtl. eine gewisse Erleichte­rung dar, weil dadurch der bisher notwendige monatliche Gang zum Amt entfällt, um sich die Leistungen dort persönlich in bar auszahlen zu lassen.
  • ...zeitlich möglichst begrenzt Verwendung finden:

    • Sobald die Leistungsberechtigten über ein eigenes Basiskonto bei einer Bank verfügen, muss die Auszahlung der monatlichen Leistungen umgehend von der Bezahlkarte auf dieses eigene Basiskonto umgestellt werden.

    • Der Landkreis trägt mit dafür Sorge, dass der Rechtsanspruch auf ein reguläres Basis­konto (z.B. bei der Kreissparkasse, bei der der Landkreis Mitsprache hat) weiterhin zum frühestmöglichen Zeitpunkt geltend gemacht werden kann.

    • Für die Kontoeröffnung dürfen seitens der Geldinstitute und der Leistungsbehör­den kei­ne neuen, höheren Hürden für Bezahlkarten-Inhaber:innen aufgebaut werden. Entspre­chend muss der Landkreis auf die lokalen Geldinstitute einwir­ken.

  • ...diskriminierungsfrei im Alltag verwendet werden können:

    • Die Bezahlkarte soll von außen nicht von einer regulären Bankkarte zu unter­scheiden sein, um Diskriminierung und Stigmatisierung der Nutzer:innen zu ver­meiden.

    • Mit der Einführung der Bezahlkarte steht der Landkreis mit in der Verantwortung dafür, dass deren Inhaber:innen mit dieser Karte in allen Geschäften und an al­len Stellen be­zahlen können, in denen sie sich die Güter ihrer alltäglichen Le­bensführung besorgen wollen. Der Landkreis muss auf den lokalen Einzelhandel einwirken, so dass auch ge­ringwertige Einkäufe mit der Bezahlkarte ohne zu­sätzliche Gebühren möglich sind.

  • ...von Anfang an störungsfrei funktionieren:

    • Bereits jetzt führen selbst kurzfristige, unverschuldete Unterbrechungen des Leistungs­bezugs für die betroffenen Menschen oftmals unmittelbar zu existenziellen Notlagen, denn die Betroffenen haben in der Regel keinerlei finanziellen Rücklagen. Wenn die Be­zahlkarte im Landkreis Tübingen tatsächlich eingeführt werden soll, darf sie deshalb erst dann ausgegeben werden, nachdem in der Verwaltung nachweislich die erforderli­chen technischen und personellen Voraussetzungen geschaffen wurden, durch die das System in der Praxis funktioniert ohne das Risiko solcher Notlagen für die Betroffenen zusätzlich zu erhöhen.
  • ...zu keiner zusätzlichen Belastung bei ehrenamtlichen und nicht-staatlichen Unter­stützungsstrukturen führen:

    • Aus unserer praktischen Erfahrung der Arbeit mit Geflüchteten sehen wir bisher nicht, wie eine Bezahlkarte zu einem „Bürokratieabbau“ in der Verwaltung und einer Entlas­tung der dortigen Mitarbeitenden führen kann, ohne dass dies gleichzeitig auf Seiten der Be­troffenen und der sie unterstützenden Menschen und Organisationen einen deut­lichen zu­sätzlichen bürokratischen Aufwand zur Folge hätte.

    • Vor der Einführung eines Bezahl­kartensystems im Landkreis müssen deshalb der dafür erforderliche zeitliche/organisatorische Mehraufwand bei allen Beteiligten und die ggf. dafür erfor­derlichen zusätzlichen Sach- und Personalkosten, auch während des an­schließenden dauerhaften Betriebs des Systems, nochmals realistisch und transparent dargestellt und mit allen Beteiligten diskutiert werden.

Wir fordern den Landkreis Tübingen, Landrat und Kreistagsfraktionen zudem dazu auf, umgehend ihre jeweiligen Einflussmöglichkeiten auf Landesregierung und -politik im Sinne unserer Forderun­gen zu nutzen, insbesondere im Hinblick auf künftige landesweite Vorgaben und Rahmen­bedingungen für eine einheitlichere Gestaltung der Bezahlkarte in Baden-Württemberg.

Tübingen, 10.05.2024

Erstunterzeichnende Organisationen:

  • AIDS-Hilfe Tübingen-Reutlingen e.V.
  • AK Asyl Südstadt, Tübingen
  • Asylzentrum Tübingen
  • Attac Tübingen-Reutlingen
  • Beratungsstelle Plan.B, Tübingen
  • Bündnis „Stop GEAS“, Tübingen
  • Epplehaus Tübingen
  • Fluchtpunkte e.V., Tübingen
  • Frauen helfen Frauen, Tübingen
  • Integrationsrat Tübingen
  • Jugendmigrationsdienst / Diakonisches Werk Tübingen
  • Team Kirchenasyl der Katholischen Hochschulgemeinde Tübingen
  • Flüchtlingsbeauftragter Katholisches Dekanat Rottenburg
  • KIT Jugendhilfe, Tübingen
  • move on – menschen.rechte tübingen e.V.
  • Parents for Future Tübingen
  • Ract!festival / Orgaplenum, Tübingen
  • Seebrücke Tübingen
  • Tübinger Arbeitslosen-Treff e.V.
  • Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschist*innen, Tübingen
  • Vernetzung der Unterstützerkreise für Geflüchtete im Kreis Tübingen